Filmkritik | Shen Nü – Die Göttliche (China, 1934)

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie Retrospektive | Der frühe chinesische Film.


Shen Nü - Die GöttlicheDas 1934 entstandene Stummfilmdrama Shen Nü – Die Göttliche zählt heute zu den ganz großen Klassikern des chinesischen Kinos, vereint der Film doch einen künstlerischen Ansatz mit Kritik an der ständigen Unterdrückung des chinesischen Volks. Für jene tragische Rolle konnte keine Geringere als die talentierte wie schöne Ruan Lingyu verpflichtet werden, die seit ihrem Wechsel zu den damals sehr aktiven Lianhua-Filmstudios einen immensen Erfolg hingelegt hatte. Bis heute ist ihre Rolle in Shen Nü – Die Göttliche unvergessen. Im Westen dürften allerdings nur eingefleischte Filmfans schon mal von Ruan Lingyu gehört haben. Hongkong-Regisseur Stanley Kwan widmete ihr 1992 mit dem Bio-Pic Centre Stage einen Film, in dem die Schauspielerin der goldenen Ära von der unvergleichlichen Maggie Cheung verkörpert wurde. Ihr Leben hat es auch verdient, verfilmt zu werden. Denn ähnlich zu Shen Nü – Die Göttliche war auch Ruan Lingyus Privatleben geprägt von Leid und einem unglücklichen Händchen für Männer, das 1935 in einer Tragödie endete: im zarten Alter von gerade einmal 24 Jahren nahm sie sich das Leben.

In Shen Nü – Die Göttliche spielt Ruan Lingyu eine alleinerziehende, junge Frau, die im Neondschungel eines florierenden Shanghais der Prostitution nachgeht, um für sich und ihr Baby sorgen zu können. Sie ist »die Göttliche«. Was so erhaben klingt, ist jedoch nichts anderes als Slang für eben jenes leichte Mädchen, das sie im Film verkörpert. Wobei leichtes Mädchen ganz im Auge des Betrachters liegt. Im Film jedenfalls kümmert sie sich rührend um ihr Baby, ihr Ein und Alles, und wird damit zu einer bodenständigen Frau, die die Sympathien auf ihrer Seite hat. Auf der Flucht vor der Polizei versteckt sie sich eines Tages im falschen Zimmer: Hier entspannt nämlich gerade ein Kleinganove, der sich Boss nennt und fortan als ihr Zuhälter agieren will. Die junge Frau hat keine andere Wahl als sich von ihm tyrannisieren zu lassen. Er dringt in ihre Wohnung, nimmt ihr ihr Geld weg, ja entführt an einer Stelle sogar ihren Sohn, um zu zeigen, wie mächtig er ist. All ihre Versuche, ihm zu entkommen scheitern. Jahre später íst es der verzweifelten Mutter endlich gelungen, heimlich ein bisschen Geld auf die Seite zu legen, um ihrem Sohn eine Schulbildung bieten zu können. Doch dann findet der Boss das Geldversteck. Die Tragödie spitzt sich zu.

Trotz wackligem, verkratzten und über- bzw. unterbelichteten Bild offenbart sich das Drama als künstlerisch wertvolles Werk. Auf überraschend moderne Weise setzt Wu Yonggang († 1982) in seinem Regiedebüt auf Kameraschwenks, Close-ups oder von oben gefilmte Sequenzen, die wirkungsvoll eingesetzt werden. Unumstrittener Mittelpunkt ist aber Ruan Lingyu, die mit ihrem intensiven Spiel zu verzaubern weiß. Ohne hektisches Overacting, wie man es sonst aus Stummfilmen bzw. auch neueren Chinakomödien kennt, weiß sie durch Mimiken und Gestiken ihre Gefühle auf effektive Weise mitzuteilen. In der tragischen Rolle geht sie komplett auf. In einer Zeit, in der Frauen noch auf ihre Männer angewiesen waren und Prostitution als geächtete Arbeit angesehen wurde, spielt Ruan Lingyu trotzdem eine würdevolle starke Frau. Ihre bedingungslose Liebe ihrem Sohn gegenüber ist genauso greifbar wie ihre Verzweiflung, ihr ständiger, stiller Begleiter in ihrer auswegslosen Situation. Sie möchte weg aus ihrem Lieben, irgendwo hin, wo sie niemand kennt, wo sie von niemandem unterdrückt wird, wo niemand sie für ihren Beruf verachtet und ihr Sohn mit anderen Kindern spielen kann, ohne unter Vorurteilen leiden zu müssen. Doch egal wie sehr sie kämpft – ihr Schicksal holt sie jedes Mal aufs Neue ein. Ihre Verzweiflung wird zu Hass, ihr Hass kehrt sich nach außen und gipfelt in einer Tragödie. Auch dieser Inhalt scheint heute noch gültig zu sein. Noch immer werden Filme mit ähnlicher Story gedreht, noch immer hat man in der Gesellschaft unter Vorurteilen zu leiden, wenn man nicht in die eng abgesteckte Welt seiner Mitmenschen passt. Regisseur Wu Yonggang setzte aber vor allem auf den Aspekt der Unterdrückung und nutzt das Leiden Ruan Lingyus unter ihrem Peiniger obendrein als Metapher für sein eigenes Volk, das ständig von irgendwem unterdrückt wurde.

Shen Nü – Die Göttliche hat bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt. Chinesische Filmexperten sind sich einig und wählten das Stummfilmdrama anlässlich des einhundertjährigen Bestehens des chinesischen Films auf Platz 29 der 103 wichtigsten chinesischen Filme. Wu Yonggang drehte den Film 1938 unter dem Titel Rouge Tears noch einmal neu, konnte allerdings bis kurz vor seinem Tod nicht mehr an seinen einstigen Erfolg anknüpfen. Denn nur eine kann die Göttliche sein – und das ist und bleibt nun mal die legendäre Ruan Lingyu.

© Shaoshi, 23. Januar 2013

神女 | Shen Nü
China • 1934 • 75 Min. • Stummfilmdrama
Alternativtitel | The Goddess
Regie | Wu Yonggang
Drehbuch | Wu Yonggang
Darsteller | Ruan Lingyu, Zhang Zhizhi, Li Keng

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Cover-Quelle: movie.douban.com

2 Gedanken zu “Filmkritik | Shen Nü – Die Göttliche (China, 1934)

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